Ich halte „Social Distancing“ für ein Unwort des eigenartigen Jahres 2020. Als Alternative schlage ich das Wort „Physical Distancing“ vor. Dieses impliziert bloß räumlichen Abstand, nicht jedoch sozialen. Gerade in Krisenzeiten sehnen wir uns noch mehr als sonst nach Nähe. Wie aber ist Nähe möglich, solange ein Virus zirkuliert, der nur auszubremsen ist, indem wir ihm die Wege zwischen den Menschen „verbauen“? Die so genannten sozialen Medien bieten in dieser diffusen Lage die Möglichkeit einer gewissen Nähe, und erlangen eine ganz neue Bedeutung. Sie verlieren endgültig den Nimbus eines elektronischen Spielzeugs und mutieren zum unabdingbaren Werkzeug.
Ein Mittel zum Zweck
Wie viele Epidemien, auch Pandemien, hat die Geschichte schon gesehen? Die Isolation der Infizierten sowie radikale Kontaktverminderung gingen fast immer mit einher. In welche Einsamkeit gerieten Menschen da oft? Als Franziskaner denke ich hier an den hl. Franziskus und die Pestkranken. Unter äußerster Selbstüberwindung näherte er sich diesen trotz tödlicher Ansteckungsgefahr, um ihnen praktische Hilfe, aber noch wichtiger soziale Nähe zu schenken. Soziale Interaktion über Telefon, E-Mail, WhatsApp usw. existierten damals noch nicht, Schutzkleidung auch nicht.
Erstmals in der Geschichte konnten währende der Corona-Pandemie 2020/21 Patienten und ihre Bezugspersonen über Videodienste ungefährliche Kontakte pflegen. Eine Krankenhaus-Seelsorgerin erzählte mir, wie hilfreich das für viele war, auch wenn es physische Kontakte selbstverständlich nicht ersetzen kann.
Aber nicht nur für direkt Betroffene, für ganz viele Bereiche der Gesellschaft erweisen sich Möglichkeiten elektronischer Kommunikation während der Krise als stabilisierender Faktor. Home-Office, Distance-Learning, Video-Konferenzen, E-Mail, WhatsApp, Facebook, Instagram usw. halten Menschen in unterschiedlichsten Konstellationen in Beziehung, solange direkte Kontakte zu riskant sind. Damit ermöglichen sie Leben, welches sich ja immer in Beziehungen abspielt. Selbstverständlich können alle diese Möglichkeiten leibhaftige Interaktion unmöglich ersetzen. Das weiß, wer zum Beispiel über Video unterrichtet hat oder unterrichtet wurde. Zugleich hat man vielleicht aber auch die Erfahrung gemacht, dass diese Kommunikationsform ihre Reize hat, und auch nach der Gesundheitskrise in bestimmten Bereichen zum Einsatz kommen könnte.
Meine erste Aversion
Ich persönlich bestritt die erste Video-Konferenz meines Lebens während des ersten Lockdowns im April 2020 – sie war ein Desaster! Noch konnten wenige wirklich gut damit umgehen, auch was die Technik betrifft. So vergingen fast 20 Minuten, bis wir uns alle halbwegs gut sehen und hören konnten. Trotzdem ertönten immer wieder unangenehme Nebengeräusche. Mein grelles Schreibtischlicht bewirkte, dass ich mich selbst am Bildschirm als „blasser Zombie“ wahrnahm, ungesund also für meine Eitelkeit. Für mich ging jedenfalls bei all diesen Schwierigkeiten und der damit verbundenen Frustration der Inhalt unseres Meetings fast unter. Wie froh war ich, als der Spuk vorbei war und ich das Meeting verlassen konnte. „Nie wieder!“, schwor ich mir, aber schon mit einer leisen Vorahnung der eventuellen Kurzlebigkeit dieses Vorsatzes. Und tatsächlich folgten bald weitere Besprechungen über Online-Plattformen, anfangs noch unter großer Überwindung, mit der Zeit innerlich etwas gelöster. Ganz anfreunden konnte ich mich damit aber bis in den Spätsommer nicht.
Sinnesänderung und Erfolgserlebnisse
Im Oktober begannen die Infektionszahlen wieder unerbittlich zu steigen. Bald war klar, dass keines unserer geplanten Herbst-Angebote für junge Erwachsene stattfinden könnte. Da geschah es, dass in mir eine Veränderung einsetzte, die ich aus jetziger Sicht als gnadenhaft bezeichnen möchte. „Wieder einfach alles ersatzlos absagen, wie im Frühling, geht einfach nicht“, dachte ich mir. Dann der Geistesblitz: „Wir bieten unsere Kurse und Angebote zumindest online an!“ Wie froh bin ich jetzt, dass andere ähnlich dachten, wir uns in diesem Ansinnen sogar gegenseitig bestärkten und einige schöne, fruchtbare Kooperationen entstanden.
Den ersten Coup landeten wir mit der eintägigen Veranstaltung „Zeit für Berufung“, ursprünglich für zweieinhalb Tage im Kloster Pupping geplant. In einem Team franziskanischer Ordensfrauen und Ordensmänner bemühten wir uns – ebenfalls über eine Video-Konferenz – das Programm den veränderten Umständen anzupassen. Gott hat manchmal wirklichen Humor: Ich als der vielleicht größte Meeting-Muffel der Welt „durfte“ jetzt sogar die Rolle des Host, sprich des Gastgebers übernehmen, der im Hintergrund für die technische Abwicklung sorgt. Ursprünglich völlig ahnungslos, machte ich mich mit der Abwicklung eines Online-Meetings vertraut, in unserem Fall über die Plattform Zoom. Wenn man sich darauf einlässt ist es wirklich nicht schwer, sonst hätte ich es mit meiner EDV-mäßigen Unbedarftheit nicht geschafft.
Wie faszinierend war aber dann die Veranstaltung selbst? Insgesamt 18 Personen versammelten sich „auf dem Bildschirm“. So viele wären bei einer Präsenzveranstaltung aufgrund der langen Reisewege nie gekommen. Als Gruppe dieser Größe wären wir unter Corona-Bedingungen im Kloster Pupping auch nicht untergekommen. Unser „Einzugsgebiet“ umfasste den gesamten deutschen Sprachraum, wie an der dialektalen Vielfalt auch sofort hörbar wurde. Faszinierend zu sehen, wie die Angemeldeten das Angebot dankbar und mit großem Engagement annahmen. Impulse, Persönlicher Austausch und Aufgaben für die stille Vertiefung zu Hause wechselten einander ab. Auch großzügige Pausen hatten wir eingeplant. Das alles verhinderte, dass das Meeting eintönig oder anstrengend wirken könnte. Es wurde ein sehr erfüllender Tag. Er endete dann sogar noch mit einem gemütlichen Zusammensitzen am Abend. Der einzige Wehrmutstropfen war dabei, dass die riesige Tafel Schweizer-Schokolade, die eine Teilnehmerin in einer grausamen Anwandlung wiederholt in ihre Kamera hielt, leider nicht gemeinsam verspeist werden konnte – so weit ist die Technik noch nicht!
Für mich jedenfalls war diese erste Online-Veranstaltung so ermutigend, dass ich für die folgenden keine Bedenken mehr hatte. Der Kurs „Entscheiden … Unterscheiden“, den ich mit drei jungen Brüdern aus dem Kloster Graz in einer 19-köpfigen Gruppe wieder ganz anderer Leute veranstalten durfte, verlief ebenfalls zur vollen Zufriedenheit. Bald darauf konnte ich mit einem anderen Mitbruder einen virtuellen „Pilgerweg“ durch den Advent starten, benannt nach der Marcia Francescana, das bekannte sommerliche Pilgern für junge Erwachsene nach Assisi. Entsprechend den vier Wochen des Advents, steuerten wir dabei in vier Etappen Eremitagen im Tal von Rieti an, die für den hl. Franziskus eine wichtige Bedeutung hatten. Zu unserer Freude folgten 33 junge Leute unserer Einladung. Auch die eigentlich in Maria Enzersdorf geplante Advent-Besinnung für junge Menschen an den drei Tagen vor Maria Empfängnis führten wir online durch. Es waren dichte Treffen an drei aufeinanderfolgenden Tagen, bei denen unsere Gruppe von 15 jungen Menschen schnell zusammenwuchs. Selbst unsere wöchentlichen Treffen der Franziskanischen Jugend (JUFRA) Wien veranstalteten wir mit Beginn des Lockdowns als Video-Konferenzen. Sie gewannen dadurch eine spezielle, eigentlich recht belebende Dynamik. Nebenbei gesagt, funktionierten auch alle Planungen für die genannten Angebote über Onlinemeetings.
Licht und Schatten
Wie gesagt bin ich davon überzeugt, dass sich die gemachten Erfahrungen auch nach der akuten Gesundheitskrise nützen lassen. Folgende Reize haben Online-Angebote für mich bekommen: Die räumliche Distanz spielt keine Rolle. Dadurch erweitert sich der Kreis derer, die teilnehmen können, immens. Eng damit verknüpft ist der Faktor Zeit. Sowohl die Hin- und die Rückreise als auch die Übernachtungen und Zwischenzeiten am Veranstaltungsort fallen weg. Innerhalb der Arbeitseinheiten kann entspannt aber intensiv gearbeitet werden, was eine gewisse Dynamik der Effizienz hineinbringt. Hier kommt der ökonomische Faktor ins Blickfeld. Anders als bei Präsenzangeboten fallen kaum Kosten an. Aus psychologischer Sicht ist die Niederschwelligkeit von Online-Angeboten ein interessanter Aspekt. Eine Anmeldung birgt nämlich kaum Risiko. Die Teilnehmer*innen sitzen ja zu Hause vor dem PC. Falls es jemanden nicht gefällt, kann er unauffällig abtauchen. Zusammenfassend könnte man Online-Veranstaltungen so charakterisieren, dass bei einem minimalen Commitment doch maximal profitiert werden kann.
Natürlich erweisen sich diese geschilderten Vorteile zugleich auch als die Nachteile! Es fehlen etwa die wesentlichen Zwischengespräche beim Kaffee, Mittagessen oder beim Spaziergang in der Pause. Es fehlt die unersetzbare Qualität, welche nur in der Kommunikation leibhaftig präsenter Menschen erreicht werden kann. Es fehlt auch der „Genius Loci“, die Atmosphäre also und der Zauber eines besonderen Ortes. Verstärkt spürbar wird das bei Gebetszeiten. Ob ich beim Gebet zu Hause im Wohnzimmer auf den Bildschirm eines PC starre, oder in einer Kapelle sitze, im Bewusstsein der Gegenwart des Herrn im Tabernakel, ist ein riesiger Unterschied.
Online-Angebote und Soziale Medien im Allgemeinen werden auch in Zukunft physische Nähe nie ersetzen können. Das ist unbestritten klar, und es ist auch gut so. Aber in bestimmten Situationen ermöglichen sie zumindest ein bestimmtes Maß an sozialer Nähe. Als ein simples Werkzeug, um Menschen auf der ganzen Welt zusammen zu bringen, ohne mit allzu vielen (Flug-)Reisen die Erde weiter in Richtung Kollaps zu treiben, eignen sie sich prächtig. Gottes Geist hat jedenfalls keine Berührungsängste mit diesen Medien, das habe ich in diesen Monaten erfahren. Er bedient sich ihrer, ohne ihnen zu verfallen, und zeigt uns damit wie es geht.